Volksstück von Teja Fiedler – Opulent und ausdrucksstark inszeniert von Andreas Wiedermann
Vergleiche hinken. Und jene zwischen Äpfeln und Birnen sollte man erst gar nicht anstellen. Der Agnes-Bernauer-Festspielverein hat zuletzt unter Regie von Johannes Reitmeier und des 2018 verstorbenen Alfred Jurgasch auf Basis der Reitmeierschen Textfassung die Zeitreise ins Mittelalter angetreten. Überaus erfolgreich und im angemessenen Kontrast zur in jeder Hinsicht in die Jahre gekommenen Hubrich-Fassung. Diesmal, beim 20. Festspiel seit 1935, sitzen Teja Fiedler (Autor) und Andreas Wiedermann (Regie) am Steuer des Zeitreise-Vehikels. Es ist ein Festspiel 4.0 geworden. Es ist eine zeitgemäße Aufführung, theatral aber nicht theatralisch, tiefenpsychologisch, temporeich und spannungsgeladen: Nicht nur weil alles neu ist, vom Text, Startpunkt der Geschichte bis zum Bühnenbild auf voller Hofbreite von 32 Metern. Sie ist auch spannend, weil neue für den Fortgang der Handlung wohldurchdachte Charaktere ins Spiel gebracht werden und man an scheinbar Altbekannten ungeahnte Facetten vorgehalten bekommt. Beatrix (Ramona Treintl) ist nicht nur böse, sondern besorgte Schwester, und die einst vor allem liebe Freifrau von Waldeck (Anna Lummer) ganz schön selbstbewusst. Der Blickwinkel des Zuschauers wird besonders gelenkt auf Ernst (Franz Aichinger) und Albrecht (Ben Gröschl), auf einen besorgten Vater und ungestümen, sprunghaften Sohn, der mal die Regentschaft übernehmen soll. Gröschl wie Aichinger spielen ihre Rollen souverän und facettenreich aus. Agnes (Kristina Kohlhäufl) ist wunderschön anzuschauen, vermittelt glaubhaft ihr Dasein zwischen den Stühlen der Ständeordnung. Und meistert es, als erste Agnes überhaupt auch als Wasserleiche Bühnenpräsenz zu haben.
Es gibt die wunderbar authentischen Kostüme aus dem Agnes-Bernauer-Fundus, einige aufsehenerregend neue. Es gibt opulente wohlchoreografierte Massenszenen, mit gehörig Aktion, Schwerterklirren und amourösem Badestube-Geplänkel. Und als Kontrast intime leise Szenen wie jene zwischen Ernst und seiner ehemaligen Geliebten Anna Winzerer (Claudia Griessl). Es gibt einen Agnes im Alptraum erscheinenden Herzog Ernst mit unheilkündenden Todesengel-Flügeln, einige sehr hinterkünftig humorige Szenen – wenn ein italienischer Gesandter (Ben Engl) sich über die Bayern wundert oder zwei temperamentvolle Holländerinnen (Petra Peschke und Marion Bremm), die Jakobäa Rudi-Carell-like als Albrechts Braut anpreisen. Der Klerus ist als Teil des Systems satirisch überzeichnet, für Lukas Butterworth wie gemacht. Magda, die treue behinderte Begleiterin der Agnes, ist eine Meisterleistung von Martina Chavez-Weiss. Der Henker (eine Paraderolle für Gerd Lex) ergötzt das Volk an detaillierten Beschreibungen von Todesarten, um am Ende seinem Beruf abzuschwören. Selbst hier Ambivalenz. Das Stück und seine Inszenierung lösen historische Statik mutig auf und lassen das Publikum hinter Fassaden der mittelalterlichen Gesellschaft blicken. Denn die Geschichte, die erzählt wird, ist ja hinlänglich bekannt. Jeder weiß, dass die Liebesgeschichte von Agnes und Albrecht daran scheitern muss, dass 1435 „Pretty woman“ keine Option und Hollywood noch nicht mal von Kolumbus entdeckt war.
Es gibt wenig Liebesszenen. Stattdessen spielt Andreas Wiedermann mit der Gewissheit oder zumindest der Illusion, dass Ernst damit hadert, die schöne Agnes zu beseitigen – wegen eines einzigen Makels, nämlich ihres niederen Standes. Wiedermann treibt es auf die Spitze: Ernst, weiblichen Reizen gegenüber kein Kostverächter, könnte sich die Bernauerin nicht nur als Geliebte seines Sohnes neben einer standesgemäßen Ehefrau vorstellen. Er könnte sie sich auch als seine eigene Geliebte vorstellen. So etwas toleriert das System. Und das kommt noch stärker heraus als bisher. „Heiraten ist ein Geschäft.“
Das Publikum 2019 durchschaut die Methodik des Systems, blickt in psychologische Abgründe und auf emotionale Achterbahnfahrten bei Volk wie Adel, die jeder Mensch nachvollziehen kann, der schon einmal geliebt, gehadert, gewünscht, gekämpft, Kompromisse verworfen und sehenden Auges verloren hat. Mehr noch, weil die Sprache völlig natürlich wirkt.
Andreas Wiedermann ist gelungen, was ohnehin zu seinen großen Stärken gehört, hochambitionierten Laien das Können zu entlocken, das in ihnen steckt. Und der Festspielverein hat viele Talente, mit denen er bei dieser Inszenierung wuchert, in den großen Rollen genauso wie in den kleinen. Also: Hingehen, solange es noch Karten gibt, und sich überraschen lassen von einer nur auf den ersten Blick altbekannten Geschichte.